Jüdisches Berlin: Das Holocaust-Mahnmal
Ob Museum, Synagoge oder hippes Szene-Café – es gibt es noch, das jüdische Leben in Berlin, den dunkelsten Kapiteln deutscher Geschichte zum Trotz. Und nach wie vor ist es eine ebenso spannende wie treibende Kraft in der Entwicklung der Bundeshauptstadt. Dabei ist die Geschichte Berlins eng und untrennbar mit den jüdischen Gemeinden hier verbunden. Wir vom Industriepalast Hostel haben uns auf Spurensuche begeben und erkunden gemeinsam mit euch in unserer neuen Serie Jüdisches Berlin die vielen Facetten jüdischer Kultur in der Metropole. Nachdem ihr im Jüdischen Museum bereits der Geschichte der Berliner Juden begegnet seid, wenden wir uns heute einem ganz besonderen Erinnerungsort in der Hauptstadt zu: dem Holocaust-Mahnmal.
Perspektiven der Verlorenheit
2711 Stelen aus Beton sind es, und mindestens so viele Deutungshypothesen existieren zu diesem einzigartigen Erinnerungsort. Das Denkmal für die Ermordeten Juden Europas, oft auch kurz Holocaust-Mahnmal genannt regt seit 2005 an zentraler Stelle zum Nachdenken an. Auf einer freien Fläche von rund 19.000 Quadratmetern gleich neben dem Brandenburger Tor stehen die kantigen Betonquader, und ihre Wirkung ist eine Frage der Perspektive. Aus größerer Entfernung erschließt sich ein Gesamtbild, geprägt von der sanften Wellenoberfläche, welche die unterschiedlichen Einzelquader in ihrer Gesamtheit ergeben. Tritt man jedoch ein in das Stelenfeld, so verliert man schnell den sprichwörtlichen Überblick. Bis zu viereinhalb Meter hoch sind die Betonklötze, und der Weg zwischen ihnen ist zu schmal, als dass man ihn zu zweit beschreiten könnte. Wer sich tiefer hineinwagt fühlt sich vielleicht verloren, erdrückt; andere empfinden diesen eher als einen Ort der Ruhe im hektischen Großstadtdschungel. Was auch immer man hier findet, kalt lässt das Denkmal niemanden.
Und das überrascht, denn eigentlich ist das Mahnmal an Schlichtheit kaum zu übertreffen. Wo gängige Denkmale zumeist mehr oder weniger präzise auf ein historisches Ereignis oder bestimmte Personen verweisen, entzieht sich das Werk des US-amerikanischen Architekten Peter Eisenman einer eindeutigen Interpretation. Und das aus gutem Grund: “Das Ausmaß und der Maßstab des Holocaust machen jeden Versuch, ihn mit traditionellen Mitteln zu repräsentieren, unweigerlich zu einem aussichtslosen Unterfangen”, äußerte sich der Architekt einst zu seinen Plänen. Und: “Unser Denkmal versucht, eine neue Idee der Erinnerung zu entwickeln.“ So bleibt es den Besuchern selbst überlassen, eine Deutung aus dem Besuch dieses ungewöhnlichen Erinnerungsortes zu ziehen. Ein ganz ähnliches Konzept bei gleichartiger Gestaltung findet sich übrigens im “Garten des Exils” im Jüdischen Museum.
Ort der Information
Bezug und historischen Kontext zum Denkmal schafft der Ort der Information, eine unterirdische Ausstellung, die in vier Räumen die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden dokumentiert. Sechs Millionen Juden kamen durch die Nazis ums Leben, eine Zahl so unfassbar, dass sie schnell zur Floskel zu werden droht. Der Ort der Information rückt daher ganz bewusst auch Einzelschicksale und persönliche Geschichten ins Zentrum der Betrachtung. So wird der Holocaust als kollektives Trauma verständlich, ein Trauma, dass im Hebräischen meist Shoah genannt wird: “Unheil, Katastrophe”. Dennoch stellen der explizite Ausstellungsort und das frei zu deutende Stelenfeld keine gegensätzlichen Umgangsweisen mit der Erinnerung dar. Vielmehr ergänzen sich beide, schaffen einen persönlichen Bezug zum unfassbaren Grauen der Vernichtung. So kann es eine spannende und intensive Erfahrung sein, das Stelenfeld beim ersten Besuch einmal alleine zu durchwandern, dann den Ort der Information auf sich wirken zu lassen, nur um dann noch einmal zwischen den grauen Betonklötzen verloren zu gehen. Wie hat mich das Erfahrene verändert? Welche Gedanken und Gefühle begleiten mich? Die spielend umher rennenden Kinder und lachenden Teenager, die man beim ersten Mal vielleicht noch als pietätlos und störend empfunden hat, sind jetzt vielleicht eine wohltuende Erinnerung daran, dass das Leben in all seiner Vielfalt weitergeht.
Nicht frei von Kritik
Trotz allem – das Holocaust-Mahnmal war und ist natürlich nicht frei von Kritik. Vielen ist das Konzept zu frei und die Deutung nicht klar genug. Auch befürchteten manche, dass der freie Zugang von allen Seiten zu Vandalismus führen würde. Die Betonstelen sind daher mit einer speziellen Beschichtung ausgestattet, die Graffitis und andere Schmierereien einfach entfernen lässt. Auch die hohen Bau- und Unterhaltskosten wurden oft kritisiert und gefordert, das Geld lieber in bestehende Denkmäler wie die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen zu investieren. Der Kritik, das Mahnmal schließe andere Opfergruppen nicht mit ein, folgte die Errichtung einiger kleinerer Denkmäler im angrenzenden Tiergarten. Als Problem hat sich zuletzt das Baumaterial erwiesen: Der gewählte Beton ist poröser als erwartet, und so zeigen fast alle Betonstelen bereits Risse. Manche der Quader müssen mittlerweile von Stahlmanschetten gestützt werden, in absehbarer Zeit ist eine teure Sanierung wohl unumgänglich. Dennoch, das Stelenfeld hat sich aller Kritik zum Trotz zum absoluten Besuchermagnet entwickelt. Es ist so beliebt bei Berlinern und Touristen gleichermaßen, dass es zweifelsohne zu den meistbesuchtesten Denkmälern der Welt zählt und unter den Top 10 der deutschen Sehenswürdigkeiten steht. Auch bei eurem Berlinbesuch sollte das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas deshalb auf der Liste nicht fehlen. Zugänglich ist das Stelenfeld jederzeit und von allen Seiten. Der Ort der Information befindet sich im Untergrund des Feldes und hat Dienstag bis Sonntag von 10 bis 20 Uhr geöffnet (im Winter nur bis 19 Uhr). Mahnmal und Ausstellung sind voll barrierefrei zugänglich, der Eintritt ist frei.
“Mir lebn ejbig” – “wir leben ewig” – heißt ein jiddisches Lied aus dem Jahr 1943, und in der Tat: Den Schrecken der Shoah zum Trotz gibt es auch heute noch eine lebhafte jüdische Kultur in der deutschen Hauptstadt. Dem legendären Scheunenviertel, der jüdischsten aller Berliner Nachbarschaften wollen wir uns im nächsten Teil unserer Serie Jüdisches Berlin widmen – bleibt also dran!
Lehitraot und bis zum nächsten Mal,
euer Simon
Blogger @IndustriepalastHostel